Die Wiener Kaffeehäuser sind mehr als nur Orte, an denen man Kaffee trinkt – sie sind Institutionen mit jahrhundertelanger Geschichte, die tief in der kulturellen Identität der österreichischen Hauptstadt verankert sind. In einer Zeit, in der Fast-Food-Ketten und Coffee-to-go die urbane Landschaft dominieren, bilden die traditionellen Wiener Kaffeehäuser eine einzigartige Oase der Entschleunigung und des gepflegten Genusses.
In diesem Artikel tauchen wir ein in die faszinierende Welt der Wiener Kaffeehauskultur, ihre Geschichte, ihre besonderen Merkmale und entdecken die bekanntesten Kaffeehäuser der Stadt.
Die Geschichte der Wiener Kaffeehauskultur
Die Geschichte des Kaffees in Wien beginnt mit einer Legende: Nach der zweiten Türkenbelagerung 1683 sollen zurückgelassene Säcke mit unbekannten Bohnen gefunden worden sein. Der polnische Offizier Jerzy Franciszek Kulczycki erkannte ihren Wert, eröffnete das erste Kaffeehaus Wiens und begann, den für europäische Gaumen noch ungewohnten Kaffee mit Honig und Milch zu verfeinern – die Geburtsstunde des "Wiener Melange".
Diese romantische Geschichte ist zwar historisch nicht vollständig belegt, doch fest steht: Ende des 17. Jahrhunderts begann der Siegeszug der Kaffeehäuser in Wien. Im Jahre 1720 gab es bereits 80 konzessionierte Kaffeesieder in der Stadt.
Die goldene Ära der Wiener Kaffeehäuser begann jedoch im 19. Jahrhundert. In der Zeit der Wiener Moderne um 1900 wurden sie zu zentralen Orten des intellektuellen und künstlerischen Austauschs. Schriftsteller, Künstler und Denker wie Arthur Schnitzler, Stefan Zweig, Peter Altenberg, Alfred Polgar und viele andere machten die Kaffeehäuser zu ihren "erweiterten Wohnzimmern" – Orte, an denen sie lasen, schrieben, diskutierten und die Welt beobachteten.
Der Schriftsteller Stefan Zweig beschrieb die besondere Atmosphäre dieser Zeit so: "Im Wiener Kaffeehaus kann man stundenlang sitzen, reden, schreiben, Karten spielen, Post empfangen und vor allem unzählige Zeitungen und Zeitschriften konsumieren." Diese einzigartige Mischung aus Geselligkeit und Privatheit, aus Teilhabe am öffentlichen Leben und persönlichem Rückzugsort, prägt die Wiener Kaffeehäuser bis heute.
Die Besonderheiten eines traditionellen Wiener Kaffeehauses
Was unterscheidet ein echtes Wiener Kaffeehaus von anderen Cafés? Es sind mehrere charakteristische Merkmale, die zusammen die unverkennbare Atmosphäre schaffen:
Die Einrichtung: Traditionelle Kaffeehäuser zeichnen sich durch eine gediegene Eleganz aus: Marmortischchen, Thonet-Stühle, Zeitungshalter, plüschige Sitzbänke und oft prachtvolle Kronleuchter. Die Atmosphäre soll einladend sein, aber auch eine gewisse Noblesse ausstrahlen.
Der Service: Der Kellner im Wiener Kaffeehaus – traditionell als "Herr Ober" angesprochen – ist eine Institution für sich. Gekleidet im schwarzen Anzug mit weißem Hemd, serviert er den Kaffee stets auf einem silbernen Tablett, begleitet von einem Glas Wasser. Der Service ist aufmerksam, aber nie aufdringlich – man kann stundenlang an einer einzigen Tasse Kaffee sitzen, ohne zum Aufbruch gedrängt zu werden.
Die Zeitungen: Eine reichhaltige Auswahl an nationalen und internationalen Zeitungen und Zeitschriften gehört zum Inventar jedes echten Kaffeehauses. Viele Stammgäste haben "ihre" Zeitung, die sie täglich an ihrem Stammplatz lesen.
Die Speisekarte: Neben der vielfältigen Auswahl an Kaffeespezialitäten bieten die meisten Kaffeehäuser auch eine kleine Auswahl an Speisen und vor allem köstliche Mehlspeisen und Torten an.
Die Atmosphäre: Das vielleicht wichtigste Merkmal ist die besondere Stimmung – eine Mischung aus lebhaftem Treiben und ruhiger Konzentration. Hier kann man sich stundenlang aufhalten, um zu lesen, zu schreiben, zu diskutieren oder einfach das Treiben zu beobachten. Das Kaffeehaus ist ein Ort der Entschleunigung, an dem die Zeit eine andere Bedeutung bekommt.
Die Wiener Kaffeespezialitäten
Die Vielfalt der Wiener Kaffeespezialitäten ist beeindruckend und reicht weit über den bekannten "Wiener Melange" hinaus. Hier eine kleine Auswahl der beliebtesten Variationen:
- Kleiner Schwarzer / Großer Schwarzer: Ein einfacher schwarzer Kaffee, der je nach Größe der Tasse als "klein" oder "groß" bestellt wird.
- Kleiner Brauner / Großer Brauner: Schwarzer Kaffee mit einem Schuss Sahne oder Milch.
- Melange: Die berühmte Wiener Kaffeespezialität – halb Kaffee, halb heiße Milch, mit Milchschaum gekrönt.
- Kapuziner: Schwarzer Kaffee mit einem Schuss Sahne, benannt nach der Farbe der Kutten der Kapuzinermönche.
- Einspänner: Starker schwarzer Kaffee mit einem Schlag Schlagobers (Schlagsahne), serviert im Glas mit Henkel.
- Fiaker: Ähnlich dem Einspänner, aber mit einem Schuss Rum, benannt nach den Wiener Fiakerkutschern.
- Franziskaner: Melange mit Schlagobers statt Milchschaum.
- Türkischer Kaffee: Unfiltrierter Kaffee, der mit den Kaffeesatz serviert wird.
- Maria Theresia: Schwarzer Kaffee mit einem Schuss Orangenlikör, gekrönt mit Schlagobers.
- Wiener Eiskaffee: Kalter schwarzer Kaffee mit Vanilleeis und Schlagobers.
Traditionell wird jede Kaffeespezialität mit einem Glas Wasser serviert – nicht nur zum Löschen des Durstes, sondern auch um den Gaumen zwischen den Schlucken des Kaffees zu reinigen und das volle Aroma genießen zu können.
Die berühmtesten Kaffeehäuser Wiens
Obwohl es in Wien zahlreiche traditionelle Kaffeehäuser gibt, haben einige einen besonders legendären Status erlangt:
Café Central: 1876 eröffnet, war das Café Central einer der wichtigsten Treffpunkte der Wiener Intellektuellen. Persönlichkeiten wie Peter Altenberg, Alfred Polgar, Adolf Loos und sogar Leo Trotzki zählten zu den Stammgästen. Mit seinen beeindruckenden Gewölbedecken und der eleganten Einrichtung ist es heute ein beliebtes Touristenziel, das dennoch seinen historischen Charme bewahrt hat.
Café Hawelka: Das 1939 eröffnete Café wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zum Treffpunkt der Avantgarde und Künstlerszene. Leopold und Josefine Hawelka führten das Kaffeehaus mit persönlicher Note, und bis heute hat sich an der authentischen, leicht schummrigen Atmosphäre wenig geändert. Eine Besonderheit sind die "Buchteln" – köstliche Hefeteilchen mit Marmeladenfüllung, die nach einem alten Familienrezept zubereitet werden.
Café Sacher: Weltberühmt durch die Original Sacher-Torte, die hier serviert wird. Das zum gleichnamigen Hotel gehörende Café wurde 1876 gegründet und besticht durch seine elegante, fast kaiserliche Atmosphäre. Ein Besuch mit einem Stück der legendären Schokoladentorte gehört zu den kulinarischen Höhepunkten einer Wien-Reise.
Café Landtmann: Das 1873 eröffnete Kaffeehaus nahe dem Burgtheater war ein Lieblingsort von Sigmund Freud und ist bis heute ein Treffpunkt für Politiker, Schauspieler und Journalisten. Mit seiner großzügigen Terrasse und dem prächtigen Interieur verkörpert es Wiener Kaffeehauskultur auf höchstem Niveau.
Café Demel: Die ehemalige "k.u.k. Hofzuckerbäckerei" ist gleichermaßen für ihre exquisiten Torten und Mehlspeisen wie für ihr elegantes Ambiente bekannt. Eine Besonderheit ist die offene Schauküche, in der man den Konditoren bei der Arbeit zusehen kann.
Café Sperl: 1880 eröffnet, hat das Sperl viel von seiner ursprünglichen Ausstattung bewahrt. Mit seinen Billardtischen, den hohen Spiegeln und den gemütlichen Sitznischen ist es ein authentisches Stück Alt-Wien. Filmmacher und Musiker zählen heute zu den Stammgästen.
Die Wiener Kaffeehauskultur heute
Die traditionellen Wiener Kaffeehäuser standen in den letzten Jahrzehnten vor großen Herausforderungen: Die Konkurrenz durch internationale Café-Ketten, veränderte Konsumgewohnheiten und steigende Kosten haben einigen historischen Betrieben zugesetzt.
Dennoch erlebt die Wiener Kaffeehauskultur aktuell eine Renaissance. 2011 wurde sie von der UNESCO als immaterielles Kulturerbe anerkannt – eine Würdigung ihrer kulturellen Bedeutung. Diese Auszeichnung hat dazu beigetragen, das Bewusstsein für den Wert dieser Tradition zu schärfen.
Heute besinnen sich viele Wiener wieder auf die besonderen Qualitäten ihrer Kaffeehäuser: die Entschleunigung, die Möglichkeit zum persönlichen Austausch, die kultivierte Atmosphäre. Gleichzeitig haben sich viele Betriebe behutsam modernisiert, etwa durch verbesserte Kaffeequalität, neue gastronomische Angebote oder sanfte Renovierungen, die den historischen Charakter bewahren.
Auch eine neue Generation von Kaffeehäusern ist entstanden, die traditionelle Elemente mit zeitgemäßen Aspekten verbindet. So gibt es etwa Kaffeehäuser, die besonderen Wert auf Spezialitätenröstungen legen, oder solche, die ein moderneres Ambiente mit klassischen Elementen der Kaffeehauskultur kombinieren.
Tipps für Ihren Besuch im Wiener Kaffeehaus
Wenn Sie die Wiener Kaffeehauskultur authentisch erleben möchten, sollten Sie folgende Tipps beachten:
- Nehmen Sie sich Zeit. Ein Kaffeehaus ist kein Ort für die schnelle Tasse Kaffee zwischendurch. Planen Sie mindestens eine Stunde ein, um die Atmosphäre wirklich genießen zu können.
- Probieren Sie eine der traditionellen Wiener Kaffeespezialitäten und lassen Sie sich dazu eine der berühmten Mehlspeisen oder Torten servieren.
- Nutzen Sie das Zeitungsangebot. Das Lesen der ausliegenden Zeitungen gehört zum Kaffeehaus wie der Marmortisch und der Herr Ober.
- Besuchen Sie unterschiedliche Kaffeehäuser. Jedes hat seinen eigenen Charakter und seine besondere Atmosphäre.
- Die beste Zeit für einen Besuch ist oft der späte Vormittag oder der frühe Nachmittag, wenn die Häuser gut besucht, aber nicht überfüllt sind.
- Scheuen Sie sich nicht, länger zu verweilen – es wird nicht erwartet, dass Sie nach dem Ausleeren Ihrer Tasse sofort aufbrechen.
- Auch wenn es in den meisten Kaffeehäusern inzwischen WLAN gibt, sollten Sie in Erwägung ziehen, Ihr digitales Gerät einmal beiseite zu legen und die analoge Qualität des Kaffeehauses zu genießen.
Fazit
Die Wiener Kaffeehauskultur ist ein faszinierendes Phänomen, das Geschichte, Kulinarik und Lebensart auf einzigartige Weise verbindet. In einer immer schnelleren, digitalisierten Welt bieten die Kaffeehäuser Wiens Räume der Entschleunigung, der persönlichen Begegnung und des kultivierten Genusses.
Ein Besuch in einem traditionellen Wiener Kaffeehaus ist mehr als nur eine Tasse Kaffee – es ist ein Eintauchen in eine jahrhundertealte Kulturgeschichte, ein Erlebnis, das alle Sinne anspricht, und nicht zuletzt ein Stück "Gemütlichkeit", wie sie nur in Wien zu finden ist.
Wie der österreichische Schriftsteller Alfred Polgar es einst über sein Stammcafé, das Café Central, formulierte: "Das Café Central ist nämlich kein Kaffeehaus wie andere Kaffeehäuser, sondern eine Weltanschauung."
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